Kulturstiftung der Sparkasse Karlsruhe

47. Kunstpreis 2024

Luftige Spitzenstores und üppige Bühnenvorhänge, Duschvorhänge, Regen- und Wolkenschleier, Vorhänge, die etwas verbergen und andere, die etwas offenbaren, reale Vorhänge und Vorhänge im übertragenen Sinn – Vorhänge wohin man schaut. 90 Arbeiten in Malerei, Zeichnung, Druckgrafik und Mischtechnik haben das Beratungszentrum der Sparkasse am Europaplatz in eine Galerie verwandelt und präsentieren das diesjährige Kunstpreis-Motto „Vorhänge. Öffnen und verschließen, zeigen und verbergen“ in all seinen Facetten.

Ausgewählt wurden sie von der hochkarätig besetzten Kunstpreis-Jury aus insgesamt 853 digital eingereichten Arbeiten. Die Wahl der drei Preisträgerbilder erfolgte in einer zweiten Jurysitzung vor den Originalen.

Der mit 5.000 Euro dotierte 1. Preis wurde Elizaveta Sivakova aus Radebeul zuerkannt. Den 2. Preis in Höhe von 3.000 Euro erhielt Michael Rausch aus Windesheim. Der 3. Preis in Höhe von 2.000 Euro ging an Heinz Bert Dreckmann aus Falkensee.

Abbildungen Preisträgerbilder Kunstpreis 2024
Preisträgerbilder: (v.l.n.r) 1. Preis: Elizaveta Sivakova, Demenz (Öl auf Leinwand); 2. Preis: Michael Rausch, Das Versteck (Radierung); 3. Preis: Heinz Bert Dreckmann, Shell-Haus, Berlin (Mischtechnik)

Die Verleihung der Preise erfolgte durch den Vorsitzenden des Verwaltungsrates der Sparkasse Karlsruhe, Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup, im Rahmen der Vernissage.

Über 600 kunstinteressierte Gäste und ausstellende Künstler:innen konnte der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Karlsruhe, Direktor Michael Huber, zur Eröffnung der Ausstellung begrüßen. Er verriet auch schon das Thema für den Kunstpreis 2025. Es lautet: „Perspektive – Retrospektive. 50 Jahre Kunstpreis der Kulturstiftung der Sparkasse Karlsruhe“.

Gruppenbild Preisträger Kunstpreis 2024
Der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Karlsruhe Michael Huber (ganz rechts), Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup (ganz links) und Laudatorin Prof. Dr. Pia Müller-Tamm, ehem. Direktorin der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (2.v.l.) gratulieren den Preisträger:innen Michael Rausch, Elizaveta Sivakova und Heinz Bert Dreckmann (v.l.n.r.). Fotos: Tino Zimmermann

Die Ausstellung in einem Video

Kunstpreis-2024
Ein Klick auf das obige Vorschaubild bringt Sie zur digitalen Ausstellung auf Youtube.

Laudatio und Einführung in die Ausstellung von Frau Prof. Dr. Pia Müller-Tamm: Vorhänge. Öffnen und verschließen, zeigen und verbergen

Ein Blick auf die Themen des Kunstpreises der Sparkasse in den letzten Jahren macht deutlich: Es gibt große Unterschiede bei der Zahl der Teilnehmer:innen. Spitzenpositionen in der Beliebtheitsskala besetzen die Themen der Jahre 2021 und 2024: Fensterbilder hatte 962 Einreichungen, und dieses Jahr ist die Zahl gleichfalls sehr hoch. VORHÄNGE. Öffnen und verschließen, zeigen und verbergen hat 853 Künstler und Künstlerinnen zu Beiträgen animiert. Fenster und Vorhang – zwei Themen, die schon auf den ersten Blick – schon auf der Motivebene – miteinander verbunden sind. Doch der Vorhang ist sehr viel mehr als nur ein Beiwerk des Fensters, er hat sehr unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen und dies nicht nur in der Geschichte der Kunst, sondern auch im Theater, im Kino, in der Literatur. Der Filmklassiker – Alfred Hitchcocks Psycho – dürfte Ihnen allen bekannt sein: Hier ist der beschlagene Duschvorhang das höchst suggestive Element, ja, eigentlich der Protagonist in der zentralen Mordszene, er treibt die Spannung auf den Kulminationspunkt.

Vorhänge sind dramaturgisch sehr ergiebig. Sie sind auch Teil der Geschichte musealer Präsentationen; ein aktuelles Beispiel ist derzeit in Karlsruhe zu besichtigen – Sie kennen vermutlich alle die Sammlungsausstellung der Staatlichen Kunsthalle in den Räumen des ZKM. Vorhänge gliedern und verwandeln Räume und strukturieren Bilder, sie sind ein beliebtes Element der Gestaltung, wie ein Blick in die Kunstgeschichte belegt.

Vorhänge fungieren als innerbildliche Schwelle, um die Wahrnehmung des Betrachters ins Bild zu leiten oder als Barriere, an der das Sehen seine Grenze findet. Sie können als Würdeformel, als Motiv zur Nobilitierung einer Person, als Projektionsfläche und als Membran zur Verschleierung eingesetzt werden. Vorhänge haben also gegensätzliche Funktionen – als Elemente der Trennung, der Begrenzung und der Vermittlung sowie als Bedeutungsträger. Sie sind damit ein genuin künstlerisches Thema, ein Motiv, das – wie das Fenster – selbstreflexiv auf die Kunst verweist: in der Malerei, in der Fotografie, in allen Bildmedien, die vom Zeigen und Verbergen, vom Öffnen und Verschließen, vom Verhüllen und Enthüllen handeln.

Damit wohnt den Vorhängen in der Kunst ein Handlungs- oder Bewegungsmoment inne: Das innerbildliche Öffnen und Verschließen schafft einen lebendigen Bildorganismus, der Folgen für die Wahrnehmung des Betrachters hat. Es ist der klassische Widerstreit zwischen Bildraum und Fläche, zwischen der Zweidimensionalität des Bildes und dem perspektivischen Fluchten in die Tiefe, der mit dem Element des Vorhangs verbunden ist. Zahlreiche Beispiele hierfür gibt es in der Kunst seit der Renaissance, besonders aber in der niederländischen Malerei des 17. Jhs. und Interieurbildern der Moderne.

Die Darstellung des gebauschten, des transparenten, des leicht herabfallenden oder schwer hängenden Textils stellt eine große Herausforderung für die Künstler dar. In der Wiedergabe von opaker oder transparenter Stofflichkeit, von Lichtbrechung und Schattenwurf zeigt sich ihr technisches Können, ihre Exzellenz in der Ausübung des malerischen Handwerks. Und von daher ist es signifikant, dass der mythische Ursprung der Malerei – der Wettstreit der antiken Maler Zeuxis und Parrhasios – mit der augentäuschenden Wiedergabe eines Vorhangs verbunden ist.

Die geglückte Darstellung schafft Realitätseffekte, sie appelliert an unseren Tastsinn und stiftet die Illusion der Berührbarkeit; wir als Betrachter wollen den Vorhang bei Seite ziehen und voyeuristisch mehr sehen als das Bild sichtbar macht. Der Vorhang ist damit einer der großen Fantasieanreger in der Kunst. Vorhänge stacheln die Neugier der Betrachter an: Sie wecken unser Begehren, die Geheimnisse hinter den Vorhang zu entdecken. Täuschung und Enttäuschung liegen hier nahe beieinander

Der Vorhang – ein schillerndes Phänomen der europäischen Kunstgeschichte. In diesem weiten Terrain vagabundieren die Künstler und Künstlerinnen, die sich 2024 um den Kunstpreis der Sparkassenstiftung beworben haben. In der Ausstellung entfaltet sich ein variantenreiches Spiel mit dem Vorhang, indem die Künstler das Motivrepertoire der Kunstgeschichte kreativ aneignen und ideenreich weiterentwickeln; es gibt aber auch ganz eigene, metaphorische Auslegungen, in denen der Vorhang als Begriff und Idee in andere Kontexte übertragen wird.

Eine Reihe von Künstlern und Künstlerinnen stellen sich der technischen Herausforderung des gezeichneten oder gemalten Textils. Die Bilder von Helga Persel, Krystyna Bechberger, Diana Drubach, Fernando Szamszoryk, Johannes Unger und Britta Schwarting isolieren den Vorhang aus seinem räumlichen Kontext; ihre Bilder handeln von stofflichen Knotungen und Faltungen, von Lichtbrechung und Schattenbildung. In Robin Wienholds Gemäldehat ein großer roter Vorhang seinen effektvollen Auftritt; ihm geht es um Lichtreflexe und deren verzerrte Spiegelung auf den Fußboden während Jennifer Maus den als Bild gerahmten Vorhang durch das Attribut eines spiegelnden Amuletts ergänzt.

Die Kunstgeschichte mit ihren kanonisierten Bildformeln ist gleichsam die Kontrastfolie, vor der sich die Werke von Manuela Grupe und Madeline von Foerster abheben. Der rote Vorhang als Attribut der Nobilitierung in klassischen Herrscher- und Papstporträts wird hier zitiert, die Würdeformel jedoch durch den Kontext und das Bildpersonal – den Jungen Oskar, die tote Taube – ins Absurde verschoben. In Danil Beckers Gemälde Also sprach Anya wird der Vorhang zum mehrfach interpretierbaren Requisit einer ambivalenten Szene zwischen Alltäglichkeit und Bedeutungsanspruch.

Philipp Webers Gemälde mit dem Titel Pflege rekurriert auf den Typus des Fensterbildes, wie wir es aus der Kunst des niederländischen 17. Jhs. kennen, und übersetzt es humorvoll in eine groteske Bildsprache. Ulrich Seckinger interpretiert das von Vorhängen gerahmte Fenster als eine Bühne für den Auftritt seiner unbelebten Bildfiguren – den Manichino, das Papierschiffchen und die Topfpflanze.

Die Idee des Bildes als Bühne hat eine ganze Reihe an Werken der Ausstellung inspiriert. Mit digitalen Mitteln besetzt Gero Paul Feldmann einen monumentalen Raum unter dem Titel Covid 19 betritt die Bühne. Interessante Vorschläge kommen von jenen Künstlerinnen, die das theatrale Szenario zum Anlass für alogische, verrätselte Bilder nehmen, in denen die Vorhänge zu Hauptakteuren des Bildgeschehens werden. Eine verlassene Bretterbühne, eine brüchige Konstruktion aus Gestängen und Stoffplanen zeigt Andrea Freibergs Gemälde broken stage. Marcus Günthers Werk Der Akt ist eine gemalte Collage im Sinne der Surrealisten, die präzise Wiedergabe einer Traum-Realität, deren Elemente durch den großen roten Vorhang in räumliche Dynamik versetzt werden. Für die Szenerie hinter den Kulissen von Marion Pilz liefert der Maler René Magritte die Stichworte – Magritte, ein Künstler, der behauptete: „Wir sind umgeben von Vorhängen … der Himmel (hat) die Form eines Vorhangs, weil er etwas verbirgt.“ In ihrer Kunst setzt Marion Pilz die Vexierspiele des belgischen Surrealisten fort, indem sie die visuelle Wahrnehmung der Bildelemente – der gesichtslose weibliche Akt, der Vorhang und den Himmel – als instabiles Ordnungssystem, als paradoxe Innen-Außen-Beziehung sichtbar macht. Willi Boos visualisiert die Idee der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Sein Gemälde Zeitenwende zeigt eine historische Rundbogenarchitektur und eine brüchige Füllmauer aus Backsteinen – ein verschlossenes dysfunktionales Fenster also, das allerdings von einem intakten gerafften Vorhang überwölbt wird. 

Vorhänge vor Bildern fungieren im Museum schon immer als Filter, um die Kunst vor dem Licht des Tages zu schützen. Vorhänge vor einem Gemälde verstärken den Eindruck des Fensters, das seit Leone Battista Alberti und der italienischen Renaissance schon immer ein Modell für die Malerei ist. Mit der Idee von Vorhang und Fenster spielen mehrere Künstlerinnen in ihren Werken, so Myeong-Ja Zimmerer, die ihre Reispapiercollage einer Gebirgslandschaft durch zwei reale Gardinen seitlich rahmt, oder Dorothee Rübel, die in Der Wald – ein Drama in zwei Akten den Vorhang als Bildträger ihres zweischichtigen Werkes einsetzt, um zwei Zustände des Waldes – den gesunden und den zerstörten – aufzuzeigen. In diesem Werk ist ein Handlungsaufforderung enthalten; der Betrachter wird zum Akteur, der den Vorhang öffnen und verschließen kann, ebenso wie in Gesture #7E von Annelie Markmann, wo er die Lamellen einer Jalousie bewegen und so das Bild einer gezeichneten Hand in einzelne Streifen zerlegen kann.

Wer schaut nicht gern in fremde Fenster? Im Blick von außen nach innen werden Grenzen überschritten und emotionale Konstellationen sichtbar gemacht. Oliver SchwarzBlick auf die Fenster der Nachbarn am Sonntagmorgen lebt vom Kontrast zwischen der strengen Fassadenordnung und der differenzierten Vorhangausstattung der Fenster, die hier für das Leben dahinter einsteht. Susanna Storch inszeniert in FASSADE XXXV – Berlin ein reiches optisches Spiel aus Fenster und Vorhang, aus Licht, Schatten und Spiegeleffekten. Katrina Pennington blickt in umgekehrte Richtung. Ihr Gemälde Maja’s Kitchen gibt den Blick von innen nach außen, wobei Fenster und Vorhang streng bildparallel angeordnet sind. Auf diese Weise werden beide Elemente – Fenster und Vorhang – selbstreflexiv als Modelle für das gemalte Bild lesbar. Vom Sehen in einer komplexeren Form handelt Marcel Mieths Werk Behind the Curtain, der Siebdruck eines transparenten Vorhangs auf einem Spiegel, in dem das Außerhalb – der Betrachter und der ihn umgebende Raum – in das Bildgeschehen mit einbezogen wird.

Das Öffnen des Vorhangs, das Spiel mit Neugier und Begehren wird von den Künstlern variantenreich inszeniert. In der Kohlezeichnung mit dem Titel Enthüllung kombiniert Istvan Csaki einen Innenraum, der durch den Vorhang markiert wird, mit dem Ausblick auf eine Gletscherlandschaft. Thomas Eckelmann visualisiert den Moment der Überraschung und des Schocks beim Blick nach draußen, während Iris Daibert den voyeuristischen Blick hinter den Vorhang erotisch auflädt.

Einige Werke der Ausstellung verwenden den Vorhang im übertragenen Sinn. Sie handeln vom eingeschränkten Sehen, vom Sehen „unter bestimmten Bedingungen“, so die Bilder von Theora Krummel und Jungmin Park, wo mit Wassertropfen besetzte Glasscheiben die Wahrnehmung der Realität verändern. Oder Lena Krashevkas Gemälde Isolation#33, in dem eine gekonnt gemalte Luftpolsterfolie das Gesicht einer weiblichen Figur überlagert. Die Ausstellung zeigt darüber hinaus eine Reihe von Werken, in denen der Vorhang metaphorisch verstanden wird – als Vorhang aus Licht im Landschaftsbild von Petra Timmas, als Stacheldraht in Iron Curtain von Caspar Reuter oder als Wolkenvorhang in der technisch raffinierten Arbeit von Heike Negenborn.

Noch weiter gehen jene Künstlerinnen, die ganz auf die gegenständliche Absicherung durch das Motiv des Vorhangs verzichten und das Bildverständnis allein über den Titel aktivieren, so Elena Schoch in ihrer Collage Hinter dem Vorhang des Bewusstseins oder Kristine Skipsna in dem Gemälde Künstlerseele – Zeigen und Verbergen, das Porträt einer Künstlerin mit Palette – eine Allegorie der Malerei im Stil des späten 18. Jhs.

Viele weitere Werke dieser Ausstellung hätten hier eine Erwähnung verdient, ich komme jetzt aber zum Ende unserer Tour d’horizon und damit zu den Preisträgern. In deren Bildern zeigt sich einmal mehr das breite Assoziationsfeld, das sich mit dem Vorhang als Form und Idee eröffnet.

Den dritten Preis hat die Jury Heinz Bert Dreckmann zuerkannt. Das Ausgangsmaterial seines Werkes ist alltäglich – eine industriell hergestellte Vinyltapete mit einer charakteristischen Oberflächenstruktur, die an die Bahnen eines Vorhangs denken lässt. Diese Wirkung veranlasste den Künstler, über die Analogie zwischen dem Motiv des Vorhangs und der Architektur des Shell-Hauses in Berlin nachzudenken. Das Shell-Haus, nach dem Entwurf des Architekten Emil Fahrenkamp in den frühen 1930er Jahren entstanden, ist bekanntlich eine Ikone des modernen Bauens. Dreckmann gelingt es, durch präzise Schnitte in das Material der Tapete und durch die kalkulierte Verschiebung einzelner Elemente im unteren Teil des Werkes die Illusion der wellenförmigen Struktur der Shell-Haus-Fassade zu evozieren. Vorhang und Fassade rhythmisieren die Bildfläche und aktivieren den Betrachter. Eine bestechend einfache, visuell attraktive und in der Verknüpfung von Form und Bildidee stringente künstlerische Arbeit.

Den zweiten Preis erhält Michael Rausch. Er hat die Jury mit seiner großformatigen Radierung überzeugt. Technisch perfekt zeigt uns der Künstler das verworrene Geflecht eines Reisighaufens. Jeder einzelne Zweig scheint identifizierbar. Aber in der Nahsicht wird eine Struktur erkennbar, bei der die Zwischenräume, die dunklen Zonen zwischen den Zweigen für das Ganze des Bildes ebenso wichtig erscheinen wie die präzise dargestellten Zweige. Wir haben es hier mit der Fortschreibung des klassischen Themas des modernen Bildes zu tun, mit der sich wandelnden Bedeutung von Figur und Grund, mit der Äquivalenz von Bildgegenstand und den Zonen zwischen den Gegenständen. Logische Folge dieser unhierarchischen Bestimmung der Elemente innerhalb des Bildes ist die Öffnung hin zum Außerhalb. Der Künstler gibt uns nur einen Ausschnitt aus einem größeren Kontinuum. Er öffnet das Bild an den Rändern, aber – und das ist hier entscheidend – er verschließt die innerbildliche Tiefe. Die Naturformen und die Zwischenzonen verschränken sich in einer undurchdringlichen Bildebene; sie verwehren wie ein Vorhang den Einblick. Dies akzentuiert der Künstler auch mit der Wahl des Titels – Das Versteck –, der dem Werk eine geheimnisvolle Aura gibt.

Elizaveta Sivakova, die Gewinnerin des ersten Preises, ist eine emphatische Malerin, dies aber nicht im Sinne von technischer Brillanz oder einer durchgängigen Stilistik – im Gegenteil. Sie vereint verschiedene malerische Idiome auf der Bildfläche, verwendet Farbe in unterschiedlichen Aggregatzuständen von pastos bis dünnflüssig; gezielt gesetzte Markierungen kontrastieren mit unkontrollierten, chaotischen Farbverläufen. Die weiß grundierte Leinwand bleibt an manchen Stellen sichtbar und verstärkt die Wirkung von Unordnung und Zerstörung.

Das Gemälde basiert auf einer historischen Fotografie, die die Folgen der revolutionären Pogrome im frühen 20. Jh. in Russland dokumentiert. Das Werk gewinnt dadurch eine zeitdiagnostische Dimension – die horribile dictu auch für unsere von Krisen und Kriegen erschütterte Gegenwart gilt. Der Raum, das gemalte Interieur ist bei Elizaveta Sivakova nicht der schützende Raum, in dem das Subjekt bei sich ist. Er trägt die Zeichen der Zerstörung. Dieses Habitat ist als Behausung für den Menschen untauglich. Und die weibliche Protagonistin mit blinden Brillengläsern scheint entfremdet von dieser räumlichen Umgebung. Der Titel des Werkes offenbart jedoch, dass hier eine weitere Ebene angesprochen wird: Demenz.

Wir haben es nicht allein mit der Abschilderung einer äußeren Wirklichkeit zu tun. Die Künstlerin kehrt die Perspektive von außen nach innen und deutet das Interieur als Resonanzraum für den verwirrten, heillosen Geisteszustand der Frau. Deren mentale Verluste transformiert sie in Leerstellen auf der Leinwand; sie übersetzt die Desorientierung und die Unruhe der Frau gleichsam in Malerei, in eine disharmonische künstlerische Parallelwelt. Der Vorhang als Metapher für das Bild ist hier kein Schleier, der sich sanft über das Bewusstsein legt; er ist ein löchriges Gewebe, ein Stoff mit Rissen und Fehlstellen, der tiefe Einblicke gewährt und die Protagonistin von ihrer Umgebung isoliert, sie gefangen hält.

Mit dem Gemälde Demenz verabschiedet die Künstlerin jede Vorstellung von mentaler Ordnung und künstlerischer Ganzheit; sie hat ein berührendes, ein angreifendes Werk geschaffen, das in höchstem Maße preiswürdig ist.

Pia Müller-Tamm

Jugendstiftung der Sparkasse Karlsruhe

Kulturstiftung

Datum:

Karlsruhe