
Vorbemerkung: Werke der bildenden Kunst sind auf die Anschauung von Originalen angewiesen. Sie allein können die sinnliche Wirkung entfalten, die für eine Beurteilung unerlässlich ist. Die Qualität des Pinselduktus, die Gestaltung der Bildränder, das Relief der malerischen Oberfläche – auf die angemessene Betrachtung all dieser Eigenschaften von Bildern musste die Jury des Kunstpreises 2022 notgedrungen verzichten. Trotz einer großen Zahl der Einreichungen und der Begutachtung allein anhand von digitalen Reproduktionen hat sich die Jury bemüht, jedem künstlerischen Werk gerecht zu werden. Der vorliegende Text entstand dagegen nach der Betrachtung der Werke in der Ausstellung der Sparkasse.

Vorsitzende der Kunstpreis-Jury
Pflanzen sind heute brandaktuell, denn sie werden nicht nur geliebt, genutzt und gezüchtet, sondern in großem Maßstab auch ausgerottet. Unser Umgang mit Pflanzen ist deshalb Teil einer kontrovers geführten Debatte – und aus diesem Grund haben Pflanzen aktuell auch in der Kunst Konjunktur. Zahlreiche Ausstellungen nehmen unser Verhältnis zu Pflanzen aus künstlerischer Perspektive in den Blick, so zuletzt in Berlin, Weimar, Frankfurt, Baden-Baden und in der Kunsthalle Karlsruhe. Schon in historischen Bildwelten waren Pflanzen allgegenwärtig. Die Landschafts- und die Stilllebenmalerei war ihr genuines Refugium, aber auch als Beigabe in Porträts oder in Dekorationsprogrammen waren Pflanzen weit verbreitet. Die Haltung der Künstler bewegte sich zwischen der demütigen Hingabe an die Natur und der von Wissbegierde und Erkenntnisinteresse geleiteten Annäherung an die Welt der Pflanzen. Ihre Farbenvielfalt und ihr reiches Motivrepertoire waren ihnen ästhetische Herausforderung; in Pflanzendarstellungen konnten die Künstler ihre malerische Expertise unter Beweis stellen – in der minutiösen und detailgenauen Wiedergabe jeder einzelnen Naturform oder in der summarischen, skizzenhaften Darstellung mit dem farbgesättigten Pinsel. Vor allem Künstlerinnen haben sich im floralen Fach spezialisiert und so die kulturell etablierte Allianz von Weiblichkeit, Fruchtbarkeit und Pflanze bestätigt. Die Moderne sah in der künstlerischen Vertiefung in die Natur und der sorgsam-respektvollen Verarbeitung ihrer Formen einen anachronistischen Hang zur natürlichen Schönheit, letztlich die Symptome von Weltflucht und Realitätsverzicht.
Zwar mag auch heute die geduldige Versenkung in die Welt der Pflanzen noch für manche Künstler und Künstlerinnen ein lohnendes Feld ästhetischer Untersuchung darstellen, aber aktuelle Bedeutung gewinnt die Befassung mit Pflanzen, wenn sie diese als Teil unseres akut gefährdeten Ökosystems zeigen. Viele heute tätige Künstler und Künstlerinnen fokussieren die Welt der Pflanzen im Wissen um ihre Einbettung in das Gesamtgefüge unserer Umwelt, in das dynamische System der Biosphäre, dem Mensch und Tier gleichermaßen angehören. In Zeiten von globalem Klimawandel und beschleunigtem Artensterben liegen die Argumente für die künstlerische Befassung mit unserer vegetabilen Umgebung auf der Hand. Das aktuelle Interesse an Pflanzen ist auch im Kontext der kulturwissenschaftlichen Forschungen über Pflanzen, den Plant Studies, situiert, die auf neueren Untersuchungen der Botanik und der Philosophie zu Pflanzen basieren. Die Plant Studies weisen strukturelle Ähnlichkeiten mit den neueren Perspektiven auf Tiere in den Human-Animal Studies auf; beide Forschungsrichtungen teilen das gleiche ethische Anliegen.
Das Thema des Kunstpreises der Kulturstiftung der Sparkasse Karlsruhe 2022 handelt von der zwiespältigen Beziehung von Pflanze und Mensch – und es klingt das widerständige Potential von Pflanzen als (Über-)Lebenskünstler an. Es geht also nicht nur um die Gefährdung, sondern auch um die lebensspendende Kraft und die Resilienz von Pflanzen. Bilder von Pflanzen, wie sie Künstler und Künstlerinnen der Gegenwart erschaffen, können deshalb pure Augenfreude oder latent politisches Statement sein, das in die Sphären von Ethik, Politik, Ökologie und Ökonomie hineinspielt. 729 Künstler und Künstlerinnen haben sich mit ihren Werken am Kunstpreis 2022 beteiligt, 85 davon werden in der digitalen Ausstellung gezeigt, dreizehn davon mit Originalen in den Räumen der Sparkasse. Nur diese letzte Gruppe, die gleichwohl das breite Spektrum der künstlerischen Positionen verdeutlichen kann, wird hier vorgestellt.

Suchen wir nach Ähnlichkeiten zwischen historischer und heutiger Naturaneignung, so ist das Gemälde Entwurzelt und Grundlage für Neues von Klaudia Thiel exemplarisch. Die Künstlerin fokussiert die bizarre Formation eines abgestorbenen entwurzelten Baumes vor einem homogenen Bildgrund. Partienweise arbeitet sie mit Steinmehl und verleiht dem Gemälde dadurch reliefhafte Qualität. Das Motiv der aus dem Kontext isolierten Pflanze lässt an jene Übungen denken, mit denen die Eleven der Kunst früherer Epochen sich die Natur malerisch aneigneten. Klassische Landschaftsbilder entstanden bis weit ins 19.Jahrhundert hinein nicht in der freien Natur, sondern sie wurden im Atelier aus kleinformatigen botanischen Einzelstudien, die en plein air vor dem Objekt angefertigt wurden, additiv zusammengesetzt. Heute betrachten wir diese kleinformatigen Ölstudien von Baumstämmen, Wurzelwerk, Blättern, Blumen und Gräsern mit mindestens der gleichen Freude wie die daraus entwickelten Kompositlandschaften. Klaudia Thiel vergrößert ihre Naturstudie zum repräsentativen Gemälde und gibt dem Werk durch den Titel Entwurzelt und Grundlage für Neues eine Pointierung, die an die erneuernden Kräfte der Natur denken lässt. Der entwurzelte Baum ist der Boden, auf dem neues Pflanzenleben entsteht. Es zeigt sich in dem zartgrünen Bewuchs, der hier das abgestorbene Holz partiell überzieht.

Während sich Klaudia Thiel mit malerischer Könnerschaft an den Formen der Natur abarbeitet, gestaltet Susanne Weyand ein plastisches Bild, das schon in der Wahl des Materials originell und bedeutungsvoll ist: In Mimosa hat sie die schwarzen Gummischläuche alter Autoreifen recycelt. Gummi wird bekanntlich aus Erdöl hergestellt, das wiederum aus den vorzeitlichen Ablagerungen von pflanzlichem und tierischem Plankton hervorgeht. Die titelgebenden Mimosen sind hypersensible Pflanzen, die auf Erschütterungen, Licht- und Temperaturwechsel durch Einziehung ihrer gefiederten Blätter reagieren; stärker noch als andere Pflanzen interagieren sie mit ihrer Umwelt. Zwischen diesen Komponenten der Arbeit – dem Material und dem Titel – lassen sich zahlreiche Resonanzen und Widersprüche ermitteln, aber auch die Vorstellung eines natürlichen Kreislaufs scheint auf. Die Künstlerin hat den gefundenen Rohstoff ihrer Kunst mit Skalpell, Schere und Zange bearbeitet: In der Farbigkeit naturfern, in der Form jedoch an eine gefiederte Pflanze erinnernd, hat sie das Gebilde an groben Fleischerhaken montiert und damit ein komplexes Denkbild für die Gegenwart geschaffen. Die Mimose ist auch unter dem Namen „schamhafte Sinnpflanze“ bekannt.

Drei hochformatige Gemälde handeln auf sehr unterschiedliche Weise von Pflanzen am, im und unter dem Wasser. Das vergleichsweise kleine Werk von Dagmar C. Ropertz unter dem Titel Sommernacht gibt den Blick in eine Art Feuchtbiotop mit gelben Früchten an hängenden Ästen vor einem intensiv blauen Fond. Die unterschiedliche Stofflichkeit von Wasser, Felsen, Zweigen und Früchten ist malerisch angeglichen; Sommernacht ist das Bild einer Verschmelzung der Sphären, das die Vorstellung einer intakten Natur evoziert und doch durch die giftige, antinaturalistische Farbigkeit ins Unheimliche kippen lässt.

Renate Gaisser malt en plein air und alla prima, also im Freien direkt auf die ungrundierte Leinwand. Das Werk ist Teil einer größeren Serie, die dem Zusammenspiel von Sumpflilienkraut und stillem Gewässer eine Vielfalt an Bildern abgewinnt. Die Künstlerin interessiert sich in Sumpflilienkraut _7_20 für Licht und Schatten, Chaos und Ordnung und für den besonderen Moment, in dem intensive Naturanschauung sich transformiert und in Bilder von kalligraphischer Qualität mündet.

Während hier Figur und Grund noch klar geschieden sind, übersetzt Dirk Haupt seine Darstellung unter dem Titel Rheinaue in ein Ineinander von drei Bildebenen. Die Vegetation stellt er in grellbunter Farbigkeit beziehungsweise in scherenschnittartigen hartweißen Formen dar. Über diese zwei Darstellungsmodi, die jeweils die Fläche des Bildes betonen, legt sich als drittes Bildelement die in die Tiefe fluchtende Ebene des blauen Wassers, das sich hier als opake flächige Struktur materialisiert. Was vermag uns diese Form der von Menschen entvölkerten Landschaftskunst zu sagen? Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist in der zeitgenössischen Kunst von Malerei vor allem im Zeichen des Endes der Malerei die Rede. Lange schien es in einem dominanten Segment der Kunstszene unmöglich, von einem klar abgegrenzten Bezirk zu sprechen, in dem exklusiv malerische Fragen verhandelt werden. Doch auf je eigene Weise sind die Bilder von Ropertz, Gaisser und Haupt das Ergebnis von Übersetzungsprozessen, die Natur und Pflanze der Syntax des Bildes beziehungsweise der jeweiligen individuellen künstlerischen Handschrift unterwerfen. Noch immer erweist sich die Landschaftskunst als lohnendes Exerzierfeld für Maler und Malerinnen in der Gegenwart.

Ewa Kubiaks kleinformatige Arbeit auf Papier mit dem Titel Nach der Schicht zeigt eine irreale Szenerie mit einem alleinstehenden Haus im Zentrum, das an der Schnittstelle einer leuchtend blauen und einer tiefschwarzen Fläche platziert wurde. Die Umgebung des menschenleeren Hauses ist kein bewohnbarer Ort; sie wird durch die spezifische Art der Flächengestaltung strukturiert: die untere Fläche durch Markierungen mit dem Pinsel in Blau, die obere durch dicht gesetzte, schwarze Strichbündel. Aufgrund der in gleicher Weise schwarz gefüllten Fensterflächen im linken Teil des Hauses wirkt das Gebäude kulissenhaft und unheimlich. Die Welt der Pflanzen ist auf die schmale Zone an der Kante zwischen dem Haus und den umgebenden Flächen reduziert. Das Unkraut tritt in dieser unwirtlichen Umgebung als (Über-)Lebenskünstler in Erscheinung: Es folgt einerseits der Geometrie des Gebäudes und löst andererseits dessen strenge Konturen auf; die Vegetation drängt aus der sterilen Umgebung nach draußen, stellt das Andere zur kühl konstruierten Baulichkeit dar.

Die Außen-Innen-Beziehungen zwischen Pflanze und Umwelt kehren sich um, wenn wir auf das Hochformat von Birgit Dehn blicken. In Gebinde VII (almost forever young) stellt sie ein von Plastikfolie umhülltes Korianderbündel dar – ein objet trouvé aus dem Supermarkt, das luftdicht verpackte und künstlich haltbar gemachte Küchenkraut, das aseptisch aufbereitet und durch die Verpackung den natürlichen Verfallsprozessen entzogen wurde. Im Widerspruch zur Trivialität des Gegenstands stehen dessen Isolierung aus dem alltäglichen Umfeld und die Monumentalisierung ins Großformat, vor allem aber die altmeisterliche Malkultur, die Birgit Dehn vorzüglich beherrscht. Mit größter Präzision gelingt ihr die Wiedergabe der transparenten Folie, die sich über den eingesperrten und für den Konsum zubereiteten Koriander spannt.

Die Pflanze im Interieur ist ein facettenreiches Thema, dem sich einige der eingereichten Werke widmen. Jennifer Maus gibt in Shadow on the Wall II den Blick in eine Zimmerecke mit Kommode, einer Topfpflanze – einem Philodendron – und einigen gerahmten Bildern. Philodendren waren in der Kunst der Moderne ausgesprochen beliebt; für Henri Matisse fungierten sie aufgrund ihrer ornamentalen Blattform als Anlass für das Spiel mit vexierbildartigen Figur-Grund-Beziehungen. Jennifer Maus‘ Interesse gilt dem Licht- und Schattenspiel, das die langstielige Pflanze auf die weiße Wand wirft. Die nüchterne Atmosphäre ihres Gemäldes steht der Kunst der Neuen Sachlichkeit nahe, in der Gummibaum und Kaktus als Stellvertreter für die domestizierte Natur fungierten. Bemerkenswert ist bei Jennifer Maus‘ Bildfindung, wie sich die Pflanze mit dem immateriellen Schatten innerbildlich verschränkt – ein malerisches Exerzitium von besonderem Reiz.

Eine Subspezie des Philodendron steht auch im Mittelpunkt von Nikola Schnippenkoetters kleinformatigem Gemälde Relocation. Es zeigt die Pflanze zwischen zwei Übertöpfen im Prozess des Umzugs. Die Aufmerksamkeit wird hier auf das ansonsten Unsichtbare gelenkt: das dichte Geschlinge des Wurzelwerkes und die Teilansicht der Rückseite eines an die Wand gelehnten Gemäldes.

In Anne von Westphalens Der Ableger findet eine Ersetzung statt: Die Pflanze, abermals ein Philodendron, tritt an die Stelle der menschlichen Figur. In ein gestreiftes Tuch gehüllt und mit Wasser aus dem Trinkglas versorgt ist sie der ironische Kommentar zur traditionell-christlichen Auffassung, nach der der Mensch die Krone der Schöpfung ist, dem sich das Tier und die Pflanze unterordnen. Anne von Westphalen setzt dagegen einen hierarchiefreien Blick auf die Pflanze, die – so könnte die Botschaft des Bildes lauten – wie ein menschliches Wesen zu schützen ist.

Den dritten Preis erhält Joerg Eyfferth für B 440, ein großformatiges Pflanzenstück mit Löwenzahn in einem Metalltopf vor hellem Hintergrund. Zunächst vermag die perfekte Malkunst die Aufmerksamkeit der Betrachter zu bannen. Die materielle Differenz zwischen dem wuchernden Kraut und dem hochglänzenden Topf ist in der Manier altmeisterlicher Stilllebenmalerei auf höchstem Niveau bewältigt. Aber die Pointe des Bildes liegt auf motivischer Ebene: in der Differenz zwischen dem flachen undefinierten Fond, sodass der Topf und die Pflanze ortlos im Bildfeld schweben, und der Spiegelung von Elementen eines Innenraums aus Fenster, Türe und Treppe, die sich auf der Außenseite eben dieses Metalltopfs zeigt. Und um den Realitäts- und Bildebenen noch eine weitere hinzuzufügen, hinterlässt die Pflanze ein bizarres Schattenbild auf dem hellen Fond am Fuße des Metalltopfes. Eyfferth ist ein Könner in der Wiedergabe von Spiegeln, Gläsern und transparenten Flächen. Die subtile Botschaft des Bildes könnte lauten: Hier treten die Pflanze als
(Über-)Lebenskünstler und das von Menschenhand gemachte gegeneinander an, und der wuchernde Löwenzahn erweist sich als dominant; hier zeigt sich keine nature morte, sondern ein höchst vitales und robustes Lebewesen – eine Pflanze, die als Bild überlebt, außerhalb ihres natürlichen Lebensraums, als künstlich/künstlerische Existenz.

Den zweiten Preis erhält Emily Thomas für Walden 9. Ihre Arbeit tritt dreidimensional vor die Wand und integriert eine lebende Pflanze, eine Sansevieria. Dieses stammlose Gewächs mit lanzettförmigen Blättern zeichnet sich durch extreme Robustheit und die Fähigkeit zur Beseitigung von Schadstoffen in der Luft aus. Es zählt daher zu den beliebtesten Zimmerpflanzen; dies vor allem in der Zeit der siebziger Jahre, in der die Sansevieria ebenso wie der Gummibaum in zahllosen Büros und Wohnzimmern zu finden war. In die Mitte der siebziger Jahre datiert auch der Wohnkomplex, den der spanische Architekt Ricardo Bofill in Sant Just Desvern im Nordwesten von Barcelona gebaut hat und der unter dem Namen Walden 7 als ikonischer Bau in die internationale Architekturgeschichte eingegangen ist. Mit Walden 7 bezieht sich der Architekt auf das Hauptwerk Walden des amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau, eine Gesellschaftsutopie aus dem Jahr 1854, die das Leben eines Aussteigers schildert. Dieser Text gab auch den Impuls für den utopischen Roman Walden Two des amerikanischen Psychologen B. F. Skinner von 1948. Mit der Wahl ihres Titels fügt Emily Thomas ihre Arbeit selbstbewusst in die Reihe Thoreau – Skinner – Bofill ein. Formal ist sie Bofill verpflichtet, denn die Geometrie ihres Wandreliefs folgt der Form der Balkone von Walden 7. Wo Bofill eine gigantische Wohnmaschine für ein experimentelles Zusammenleben, letztlich für eine neue Gesellschaft erdacht und gebaut hat, isoliert Emily Thomas ein einzelnes Fassadenelement, den halbrund auskragenden Balkon, und gibt ihm durch die Pflanze eine ökologische Bedeutung. Hier schließt sich der Kreis zu Thoreau, der mit Walden einen der klassischen und noch heute rezipierten Texte der Alternativkultur verfasst hat.

Den ersten Preis hat die Jury Eva Rosenstiel für ihr Gemälde cloud (Philodendron) zuerkannt – für ein lapidar einfaches, für ein nebulös vielschichtiges Werk. Ein dichtes Bündel aus grünen Blättern schwebt vor einem zartgrauen Himmel. Die Oberfläche der ledrig glänzenden Pflanze ist mit äußerster Akkuratesse wiedergegeben. Auf der Grundlage selbst erstellter Fotografien vermag die Künstlerin die Realitätseffekte des Fotografischen mit den Mitteln der Malerei herzustellen. Bemerkenswert ist vor allem die Art der Darstellung des Philodendron. Er hat keine Stiele oder Wurzeln, sondern scheint schwerelos in der Luft zu schweben. Damit nimmt ihm die Künstlerin das, was Pflanzen grundsätzlich von Mensch und Tier unterscheidet: ihre Immobilität, ihre Ortsgebundenheit, denn Pflanzen können sich nicht selbsttätig von der Stelle bewegen. Bei Eva Rosenstiel tritt die Pflanze in eine paradoxe Austauschbeziehung mit ihrer Umgebung und wird selbst zur Wolke. Die Wolke ist ein vieldeutiges Symbol: Sie steht für das Unbeständige, das Flüchtige, den Traum, die Freiheit. Wolken können aber auch bedrohlich sein, wenn sie die Form eines Atompilzes annehmen oder eine Naturkatastrophe ankündigen. Eva Rosenstiels Bildidee in cloud (Philodendron) schöpft aus den Findungen der Surrealisten; man denke zum Beispiel an die monumentalen Steine, die René Magritte vor blauem Himmel schweben ließ. Mit surrealistischer Fantasie bemächtigt sich die Künstlerin der Pflanze als Wolke. Der Betrachter ist kein Aufblickender, der sich ängstlich oder demutsvoll gen Himmel wendet. Er befindet sich vielmehr auf Augenhöhe mit der Pflanze, die bei Eva Rosenstiel zum Denkbild für die Gegenwart wird.
Pia Müller-Tamm
Die digitale Austellung aller von der Kunstpreis-Jury ausgewählten Arbeiten sehen Sie hier. Die gesamte Ausstellung ist auch als Video verfügbar (Externer Link zu Youtube).
